ARD Tagesschau am 15. Oktober 2024 um 20 Uhr, Zwischen den Berichten über Krisen im Land und Kriege und Katastrophen in der Welt kommt eine kurze Meldung:

„Das deutsche Stromnetz ist eines der zuverlässigsten weltweit. Das geht aus einer Statistik des Branchenverbandes VDE hervor. Kunden hierzulande seien im Schnitt alle drei Jahren von einer Störung betroffen. Wenn der Strom ausfalle, gebe es dafür unterschiedliche Gründe, zum Beispiel bei Bauarbeiten beschädigte Kabel.“

Wir sitzen auf dem Sofa, gucken uns an und fragen uns: Was ist das für eine Meldung? Warum sagt die Nachrichtensprecherin das? Der VDE mit Energieerzeugern, Energieversorgern, Netzbetreibern und Herstellern von Komponenten der Strominfrastruktur ist die einzige zitierte Quelle?
Das klingt ein wenig nach „habt keine Angst, alles ist gut, euch kann nichts passieren!“ und auch nach dem geflügelten Wort „Die Rente ist sicher!“.

Da wir nicht an Zufälle glauben, suchen wir nach der Original-Pressemitteilung des zitierten Verbandes VDE. Hier ist sie.
Ergänzend dazu gibt es eine aufbereitete Kurzstatistik auf der VDE-Homepage.

 

Details aus der Pressemitteilung:

  • Durchschnittliche Stromunterbrechung pro Kunde in 2023: 13,7 Minuten. In 2022: 11,8 Minuten. Eine Zunahme.
  • „Jeder Verbraucher war zu etwa 99,997 Prozent mit Strom versorgt.“ Ein wirklich guter Wert. Entscheidend sind die Fälle, in denen kein Strom da war. Vergleiche Hinken, aber die Skalen sind von ähnlich geringer Aussagekraft: „Über 84.000.000 Menschen haben im vergangenen Jahre die Teilnahme am Straßenverkehr überlebt.“ Ist doch alles super. (es gab 2839 Verkehrstote in 2023)
  • „Die Anzahl der Unterbrechungen pro Kunde lag 2023 bei 0,34 (2022: 0,25)“. Eine Zunahme.
  • „Darin sind Unterbrechungen durch höhere Gewalt und geplante Abschaltungen nicht enthalten“ – das löst noch mehr Erklärungsbedarf, wobei der VDE hier – anders als die Tagesschau – ganz transparent ist und ergänzt:
  • „Höhere Gewalt führte 2023 zu Unterbrechungen von 4,3 Minuten. Dazu zählten beispielsweise lokale Auswirkungen der Orkane Ronson, Denis und Zoltan oder das Schneetief Robin. Geplante Abschaltungen schlugen auf gleichbleibend niedrigem Niveau mit rund fünf Minuten zu Buche.“

 

Was die Tagesschau nicht erklärt:

  • 13,7 Minuten zuzüglich 4,3 Minuten aus höherer Gewalt und 5 Minuten aus geplanten Abschaltungen ergeben in Summe 21 Minuten je Stromkunde.
  • Und da statistisch nur jeder dritte Stromkunde tatsächlich von einem Stromausfall betroffen war, ist die tatsächliche Ausfalldauer je Stromausfall deutlich länger.

 

Was der VDE auch deutlich sagt, aber in der Tagesschau nicht erwähnt wird:

  • Es werden immer mehr und immer intensivere Eingriffe notwendig, um die Stromversorgung stabil zu halten.
    Zitat: „Durch den Umbau des Energiesystems auf erneuerbare Energien nimmt die Netzauslastung zu und der Netzbetrieb wird anspruchsvoller. Dadurch werden immer häufiger netzbezogene Maßnahmen notwendig, um den sicheren Netz- und Systembetrieb aufrechtzuerhalten. Dazu zählen beispielsweise Schalthandlungen sowie marktbezogene Maßnahmen wie beispielsweise der Einsatz von Regelenergie zum Ausgleich von Leistungsschwankungen oder der Einsatz von Kraftwerken. Die Aufwendungen dafür steigen seit einigen Jahren. Insgesamt konnten 2023 nach den Zahlen der Bundesnetzagentur rund 34.000 Gigawattstunden Strom von Erzeugungsanlagen nicht wie geplant eingespeist werden. Somit wurden über 96 Prozent der erneuerbaren Erzeugung in das System aufgenommen.“

 

Unsere Einschätzung:

Wer in der Primetime den Bürgerinnen und Bürgern bei bester Einschaltquote richtigerweise erklärt, dass Deutschland eines der stabilsten Stromnetze der Welt hat, sollte auch die Methodik der Statistik und die Zunahme der manuellen Eingriffe zur Stabilisierung erwähnen. Der Bundesrechnungshof hat im März 2024 die Bundesnetzagentur scharf kritisiert und von einer Gefährdung der Stromversorgung gesprochen. Anschläge auf das Stromnetz wie im März im brandenburgischen Grünheide zeigen die Vulnerabilität dieser kritischen Infrastruktur. Stromausfälle in Folge zunehmender und extremerer Unwetter sind in der Statistik ausgeklammert. Und Statistiken mit Durchschnittswerten sagen nichts über die tatsächliche Häufigkeit aus, wie die Menschen in Erfurt, die im September drei größere Stromausfälle in drei Kalenderwochen erleben durften (Edit: es sind mittlerweile vier Ausfälle in vier Wochen), und auch nichts über die Dauer, wie Usedom (12 Stunden Stromausfall mit Millionenschaden im Juli 2024 erleben durfte.

 

Unsere Empfehlung:

  • Maximal tolerierbare Ausfallzeiten kennen: Je Abhängiger das eigene Business von der Verfügbarkeit von Strom ist, desto intensiver sollte man prüfen, wie lange das Business ohne Strom sein kann, ehe es gravierende und teure Probleme gibt.
  • Bei kurzen Unterbrechungen handlungsfähig bleiben: je nach Branche helfen gut vorbereitete analoge Ausweichprozesse und/oder Netzersatzanlagen dabei auch dann noch im Business zu sein, wenn es andere schon längst nicht mehr sind. Ob Bäcker, Tankstelle, Arztpraxis, Apotheke, Medienhaus oder Baumarkt, der nach einem Unwetter-Stromausfall als letzter noch Nasssauger, Pumpen und Abdeckplanen verkaufen kann – für manche Branchen ist Vorsorge mit wenig Aufwand und großem Nutzen möglich.
  • Auf geordnetes Herunterfahren einstellen: Prognosen zur Dauer eines Stromausfalls sind nicht immer möglich. Daher sollte es einen Notfallplan geben, wann und wie das Business bei einem Stromausfall sicher heruntergefahren werden kann, um bei der Rückkehr des Stroms geordnet in den Normalbetrieb zurückkehren zu können.